Saturday, August 02, 2008

Argentinien

Nun bin ich schon ein ganzes Jahr hier, und habe immer noch nicht wirklich über Argentinien und die Argentinier geschrieben. Die üblichen demo- und geographischen Infos könnt ihr euch an geeigneter Stelle besorgen, das interessiert bestimmt keinen. Interessanter sind sicherlich die Verhältnisse hier.
Am spannendsten sind sicherlich die Argentinier selbst. Man macht schnell die Erfahrung, dass die Menschen unheimlich nett, höflich und zuvorkommen sind. Das liegt vielleicht nicht nur daran, dass man hier Höflichkeit größer schreibt, sondern auch an der sprichwörtlichen Miesepetrigkeit der Deutschen. Kommt man aus Deutschland raus, merkt man dass viele Menschen die kleinen Unfälle des Lebens gelassener aufnehmen. Topbeispiel, die Bahn. Jeder kennt das, es kommt zu Verspätungen und so weiter, alles nur noch am Meckern. Hier gibt es zwar kein derartiges Bahnsystem wie in Deutschland, aber die Überlandbusse übernehmen genau diese Aufgabe. Und die sind zwar oft pünktlich da, aber selbst bei Tandil-Buenos Aires (nominell etwa 5 Stunden) kann man plus/minus 30 Minuten rechnen, ich hab auch schon deutlich mehr erlebt. Man stelle sich das Gejaule vor, wenn die Bahn regelmäßig mit einer halben Stunden Verspätung von Hamburg aus in Frankfurt am Main ankäme. Oder als hier neulich gestreikt wurde und Busse regelmäßig stundenlang festsaßen, man nahm es überwiegend gelassen auf, beschwerte sich höchstens darüber, dass Krankenwagen auch aufgehalten wurden. Und das ging Wochen und Monate so!
Allerdings machen viele Touristen dann die Erfahrung, dass die Argentinier oberflächlich sind und oft auch etwas rücksichtslos. Wie oft habe ich mich darüber aufgeregt, dass man auf dem Gehsteig oft nicht zügig vorankommt, weil die Leute einfach immer im Weg stehen und einen nicht vorbeilassen (jaja, wo bleibt da die Gelassenheit). Genauso wird etwas zugesagt und dann nicht eingehalten, Pläne im letzten Moment über den Haufen geworfen und so weiter. Viele dieser Dinge sind mir inzwischen klar, um das zu verstehen muss man aber doch mal eben kurz in die Geschichte ausholen. Argentinien war Anfang des vorigen Jahrhunderts eines der reichsten Länder der Welt. Die ökonomischen Folgen zweier Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise haben das Land dann aber ins Schleudern gebracht, es folgten lange Jahre der Militärdiktatur, die im Falklandkrieg gipfelten. Selbst in demokratischer Zeit gab es immer wieder Probleme, unter Präsident Menem wurde das Land rücksichtslos ausgebeutet zugunsten einiger weniger, 2001 kam dann die große Krise. Inzwischen geht es zwar wieder aufwärts, aber Korruption ist allerorten und oft hoffnungslos offensichtlich. Man hat also gelernt, im Zweifelsfall wird einen der Staat nicht unterstützen, die einzigen auf die man sich verlassen kann sind Freunde und Familie. So etwas begünstigt nicht nur Vetternwirtschaft, sondern kommt meiner Meinung nach auch dadurch zum Ausdruck, dass man eben oft auch erst einmal an sich und die seinen denkt, statt an den Gegenüber. Natürlich wird man nicht sogleich übervorteilt (wer zu offensichtlich Tourist ist, vermutlich schon) aber es wird einem halt trotz großer Freundlichkeit mit etwas Reserviertheit begegnet. Wir Deutschen sind ja gewöhnt, alles was gesagt wird, gleich für bare Münze zu nehmen, eine ausgesprochene Einladung steht, Kritik wird schonungslos geäußert. Das macht man hier nicht so, ähnlich wie im angelsächsischen Raum muss eine Einladung schon sehr deutlich oder mehrfach ausgesprochen sein worden, damit man sie auch als echt ansehen darf. Sowas wird dann leicht als Oberflächlichkeit missverstanden, ist aber eigentlich nur Ausdruck einer anderen Umgangskultur miteinander.
Hat man dann aber Freundschaft geschlossen, gehen Argentinier dann auch für einen durch dick und dünn. Als es drauf ankam, waren meine Freunde hier zur Stelle. Natürlich sind auch weiterhin leichtfertig gemachte Zusagen mit Vorsicht zu genießen, aber man kann davon ausgehen, man nicht im Regen stehen gelassen wird und dass Argentinier dann auch nicht unwesentliche Schwierigkeiten auf sich nehmen, wenn ein Freund Hilfe braucht. Im Notfall auch gegen den Staat, der sowieso eher als Gegner empfunden wird, in den Händen als korrupt verschriener Politiker. Verkehrsregeln werden wie überall in Lateinamerika missachtet und auch andere Regeln wie Rauchverbote, Sicherheitshinweise, usw. werden nur dann befolgt, wenn sie auch jemand durchsetzt. Was durchaus auch geschieht, in Reisebussen kann man richtig Ärger mit den Fahrer oder Beifahrer bekommen, wenn man raucht (andere rauchen dafür selbst) und in den Innenstädten ist relativ viel Polizei präsent, die dann auch bei-Rot-über-die-Ampel-Fahrer mit ihren Trillerpfeifen anraunzt. Drei Blocks weiter ist dann aber schon wieder niemand zu sehen...

Argentinier sind unheimlich gesellig und können viel Zeit damit verbringen, einfach nur bei ein paar Mate (eine Art Tee, das Nationalgetränk) über Gott und die Welt zu reden. Nebenher läuft im Fernsehen irgendeine sinnlose Show (mein Antifavorit: Eine Abnehmshow in dem 200-Kilo-Leute von Waagesession zu Waagesession gequält werden), die Nachrichten oder eine Telenovela. Es ist auch durchaus üblich, unangemeldet irgendwo einzuscheien, ein paar Mate zu trinken und dann wieder zu gehen. Solche Mate- und Redesessions finden auch gerne mal bis in die Morgenstunden statt, mehrfach sind Freunde schon um 9 Uhr mit blutunterlaufenen Augen in der Uni aufgetaucht "ja wir haben noch bis halb sechs Mate bei X getrunken". Generell gilt, schlafen kann man, wenn man tot ist. Auch unter der Woche wird gern gefeiert, Grund par excellence ist das asado, die argentinische Variante des "Grillens". Oder man trifft sich bei Freunden zu Pizza, picadas (Käse-, Schinken-, Wurstwürfel, Oliven, .... Brot), Hamburgern usw. Oft geht es danach noch in die Disco (die hier so gut wie alle xyz-Bar heißen). Überhaupt ist Discogehen eine der Standardbeschäftigungen, auf ein paar Bierchen in einen Kneipe zu gehen, ist nicht so Ding der Argentinier. Tagsüber auf ein paar Kaffee ins Café aber schon. Zu Abend wird eher spät gegessen, viele Restaurants machen erst um neun, halb zehn auf. In die Disco geht man dementsprechend nicht vor drei Uhr nachts, vorher ist dort absolut tote Hose. Dafür bleibt man dann bis 6,7 in der frühe. Unglaublicherweise sind viele Argentinier dann aber schon wenige Stunden später wieder auf den Beinen, mit den bekannten Augenringen.
Getrunken wird auf Piste Fernet (oft mit Cola und/oder Wein gemischt), Wein, Wodka-O (destornillador), unglaublich billiges und schlechtes Bier (das gute Quilmes ist vielen wohl zu teuer), Sekt, usw. Was einen durchschnittlichen Mitteleuropäer schier in den Wahnsinn treiben kann ist der Musikgeschmack. Natürlich läuft, vor allem tagsüber im Radio aller möglicher Latinopop (ein paar Namen: Miranda!, Julieta Venegas (Mexico), Leo Garcia, los fabulosos cadillacs, natürlich Shakira und Konsorten) und relative bekanntes Zeugs (Beatles, US-Pop, die Scorpions (!)), aber zu Partys und in der Disco führt kein Weg um Cumbia herum, ein ursprünglich aus Kolumbien stammender Musikstil. Der ist zwar für Discos wirklich nicht übel und auch zum tanzen ganz okay, aber der Fanatismus, mit dem zuweilen schon nach einem halben Lied anderer Musik die ersten Lynchmobs auftreten ist schon krass. Tekkno ist nicht so, mitunter aber Reaggeaton (auch in Europa bekannt: Daddy Yankee mit Gasolina...). Bekannte deutsche Bands sind die Scorpions und Rammstein (und Tokio Hotel...).
Mitunter lustiges Detail: Es gibt hier eine echte Knappheit an Münzgeld. Oft findet sich in Ladenkassen keine einzige Münze, und entweder man hats passend, man kriegt noch was mit für das Wechselgeld (in Obst- und Gemüseläden oft) oder man kriegt die letzten 10 Cent geschenkt. Das passiert mir sogar regelmäßig im Supermarkt (Carrefour, eine französische Kette). Wer im Laden bekannt ist kann auch schon mal damit rechnen, etwas schuldig bleiben zu dürfen und dann beim nächsten Einkauf zu bezahlen, wobei ich inzwischen vermute, dass das einfach eine verkappte Variante von "passt scho" ist. Jedenfalls bin ich wohl die einzige Person weit und breit, die dann zwei Tage später auch wirklich anrückt "...und dann sind da ja noch die 35 centavos vom letzten Mal. - Ach, wirklich?". Sehr lustig. Kartenzahlung kommt nicht so oft vor, ich mache das hier gar nicht, weil man in der Regel dem Kassierer seine Geheimzahl sagt(!), außerdem wird die Ausweisnummer abgefragt.
Hmm, ich glaube der Eintrag ist schon lang genug. Fortsetzung folgt...

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